„Wir sollten Freunde sein und von den Toten lernen!”

Jugendreisen der Monte Cassino Stiftung„Wir sollten Freunde sein”. Auf diesen einfach klingenden Nenner brachte nicht nur Pawell (18) aus Polen sein persönliches Ergebnis einer Schulreise der besonderen Art. Die Jugendlichen von der Oberschule „I Liceum Ogólnoksztazcace” im polnischen Wagrowiec nahmen zusammen mit Gymnasiasten der Lüneburger „Wilhelm-Raabe-Schule” an der ersten Jugendbegegnungsreise der deutschen Monte Cassino Stiftung teil. In Cassino trafen sie auf italienische Gleichaltrige, um 6 Tage lang gemeinsam mehr über die Schrecken des Krieges zu erfahren, darüber zu diskutieren und um sich näher kennen- und verstehen zu lernen. Ermöglicht hat diese aufwändige und kostenintensive Reise die Monte Cassino Stiftung in Rinteln mit organisatorischer Unterstützung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.

Das Echo auf das Angebot einer Jugendreise mit Schulunterricht zum Thema „2. Weltkrieg” war sowohl im polnischen Wagrowiec als auch in Lüneburg unerwartet groß. Mehr als die auf je 20 deutsche und polnische Schülerinnen und Schüler begrenzte Teilnehmerzahl zeigten großes Interesse an der verheerenden Geschichte des zweiten Weltkrieges und insbesondere an dessen größten Völkerschlacht im italienischen Cassino. Immerhin bedeutete die Reise für die 15- bis 18-jährigen Schülerrinnen und Schüler, dass sie den durch die Reisezeit versäumten Unterricht nachholen mussten. Während des gemeinsamen Fluges von Berlin nach Rom lernten sich die polnischen und deutschen Jugendlichen erstmals kennen. Jugendreisen der Monte Cassino StiftungAuf das Treffen mit den italienischen Schülern mussten die angereisten Gäste bis zum nächsten Tag warten, denn gleich nach der Ankunft im sonnigen, fast dreißig Grad heißen Italien besichtigten sie in Gruppen mit Dolmetscherinnen das Museum „Historiale di Cassino”. Das vom Unternehmen des Oskarpreisträgers für visuelle Effekte Carlo Rambaldi gestaltete multimediale Museum vermittelt den Besuchern in einzigartiger Weise die schrecklichen Folgen von Krieg und Gewaltherrschaft. Originalfilm- und Fotodokumente zeigen dort in verschiedenen Themenräumen das vernichtende Bombardement und das Leid von Soldaten und Zivilbevölkerung in der Schlacht um den Monte Cassino. An der so genannten Gustav-Linie, einem von der deutschen Wehrmacht gegen die aus dem Süden Italiens vorrückenden alliierten Truppen quer durch Italien errichteten Verteidigungswall, lieferten sich Soldaten aus 32 Nationen von Ende 1943 bis zum Mai 1944 eine so erbitterte wie tödliche Schlacht mit mehr als 100.000 Gefallenen. Noch sind es namenlose Tote und ein nicht fassbares Geschehen für die Jugendlichen, doch die einzigartige mediale Darstellung im Museum, die auch ergreifende Originalfilmaufnahmen von der Bombadierung des weltberühmten Klosters Montecassino beinhaltet, lassen der Aufgeregtheit betroffenes Schweigen folgen. „Einen Krieg gewinnt niemand, es gibt nur Verlierer”, darüber sind sich alle einig.

Jugendreisen der Monte Cassino StiftungTags darauf erwarteten die italienischen Schülerinnen und Schüler ihre Gäste aus Polen und Deutschland mit einem großen Empfang im Rathaus. Bürgermeister Dr. Scittarelli empfing die jungen Besucher im Plenarsaal „Restagno” und bedankte sich für die multinationale Aufmerksamkeit. Das ehrwürdige Ambiente des Saales und die Begrüßungsrede unterstrichen die Bedeutung des Treffens junger Menschen aus den ehemals verfeindeten Nationen. Ein Spiel mit Stadtplan und Ortsfragen half, Fremdsprachenbarrieren zu überwinden und die Schüler zusammenführen. Jugendbegegnung im wahrsten Sinne des Wortes, denn am Abend traf man sich in kleinen und größeren Gruppen mit den Italienern gleich wieder. Das die jeweiligen Lehrerinnen stets in der Nähe waren, störte die Neugierde und den frischen Zusammenhalt kaum.

Am Folgetag trafen sich die Schüler in gemischtnationalen Gruppen zur Durchführung von Pflegearbeiten auf den Kriegsgräberstätten der an dem Jugendtreffen beteiligten Nationen Deutschland, Italien und Polen wieder. Mehr als 107.000 Gefallene haben auf den Soldatenfriedhöfen in und um Cassino ihre letzte Ruhe gefunden. Viel mehr als diese bloße Zahl vermittelt der Besuch der Soldatenfriedhöfe mit ihren unzähligen Gräbern den Irrsinn und die Menschenverachtung des Krieges. Die meisten der Gefallenen, stellten die Jugendlichen schnell fest, starben, als diese kaum älter waren als sie es selbst heute sind. Jugendreisen der Monte Cassino StiftungDie auf den Grabsteinen eingravierten Namen bekamen in von den Schülern im Anschluss an die Pflegerarbeiten auf den Friedhöfen gebildeten Arbeitsgruppen Gesichter und Lebensgeschichten, kurze Geschichten, denn sie alle starben jung. So zeigte Ursula Czernetzki, engagierte Unterstützerin der Monte Cassino Stiftung, Fotos von ihrem Vater und zeigte einen seiner letzten Briefe von der Front. Mit Tränen in den Augen erzählte sie, was sie über das allzu kurze Leben ihres Vaters, der seine Tochter nie hat selbst in den Armen halten dürfen, denn er starb noch vor ihrer Geburt, wusste. Auch die weiteren Arbeitsgruppen hatten von Angehörigen Gefallener aus Polen und Deutschland Informationen und auch Bilder zur Reisevorbereitung bekommen. Bei ihrem zweiten Besuch auf den Friedhöfen erläuterten die Schüler und Schülerinnen tags darauf an den Gräbern der Betroffenen, was sie in ihrer Gruppe über die Einzelschicksale dieser Menschen herausgefunden hatten. Hier ließen sich die Gefühle des Mitleids und auch des Entsetzens nicht verbergen. Doch auch Verachtung für die politisch Verantwortlichen wurde deutlich. Denn wie die Propaganda im Nazi-Deutschland fruchtete, wurde nur allzu deutlich. Viele junge Männer meldeten sich freiwillig zum Kriegsdienst, von der Nazi-Propaganda davon überzeugt das einzig Richtige zu tun. Das Kriegsende jedoch erlebten die meisten nicht.

Doch die Schuldfrage für die Verantwortung an diesem Krieg wurde konkret erst bei den Gesprächen und Diskussionen mit Zeitzeugen gestellt. Und was schon bei den Einzelschicksalen deutlich wurde, konnte bei diesen Gesprächen noch konkretisiert werden: manche der Soldaten zogen freudig in den Krieg und konnten es kaum abwarten - doch es gab auch viele andere, die nur unter dem Zwang des deutschen Schreckenregimes in den Krieg zogen. Joseph Klein (86) gehört zu den wenigen deutschen Überlebenden der Schlacht von Monte Cassino. Dort in den Bergen am Fuße des ältesten Benediktinerklosters der Welt kämpfte er nach anderen Fronteinsätzen als Fallschirmspringer mit seinen Kameraden. „Ich war, verblendet von der Nazipropaganda, als Freiwilliger in den Krieg gezogen”, erzählt er lebhaft, „erst im Krieg und danach habe ich begriffen, was für ein Irrsinn das Ganze war”. Neben Joseph Klein kamen auch zwei italienische Zeitzeugen zu Wort, darunter auch der frühere Bürgermeister von Cassino, Grazio Ferraro, der maßgeblich am Wiederaufbau der im Krieg zu 100 % zerstörten Stadt Cassino beteiligt war. Doch das größte Interesse der Schüler galt dem ehemaligen Wehrmachtsoffizier, der sich den Fragen der Schüler auch nach den Gründen und der Schuld an diesem Krieg offen und nicht ohne Selbstkritik stellte.

Noch unbeantwortet gebliebene und sich im Verlaufe des Gespräches neu ergebene Fragen der Schüler führten zur ausdrücklichen Bitte der Jugendlichen an Joseph Klein, ihnen für eine außerplanmäßige weitere Diskussionsrunde am Abend des Folgetages nochmals zur Verfügung zu stehen. Doch zuvor besichtigte die junge Reisegruppe den im Krieg zerstörten Ort San Pietro Infine und das weltberühmte Kloster Montecassino, dessen einzigartige Kunstschätze während des 2. Weltkrieges von deutschen Offizieren entgegen den Befehlen aus Berlin nach Rom verbracht wurden und dadurch vor der unwiederbringlichen Zerstörung gerettet werden konnten. Das Kloster wurde nur kurze Zeit später durch den massivsten jemals auf ein einzelnes Gebäude niedergegangenen Bombenhagel vollständig zerstört. Das gleiche Schicksal erlitt auch das Dorf San Pietro Infine. Viele Einwohner verloren dabei ihr Leben. Zurückkehren mochte niemand in das Dorf des Todes und so wurde es im Gegensatz zum nach historischem Vorbild rekonstruiertem Kloster bis zum heutigen Tag nicht wieder aufgebaut und dient seither als Mahnmal gegen den Krieg. So verfehlte der Besuch in San Pietro auch bei den jungen Leuten aus Deutschland und Polen seine Wirkung nicht. Denn zwischen den Häuserruinen und den in den Wirren der Kämpfe zurückgelassenen Gebrauchsgegenständen ist das von der Zivilbevölkerung während des Krieges erlittene Leid auch heute noch spürbar.

Jugendreisen der Monte Cassino StiftungDie an Joseph Klein am Vortag von den Schülern aus Deutschland und Polen gestellten Fragen waren eher allgemeiner Art und von anfänglicher Zurückhaltung der Schüler geprägt. Am zweiten Gesprächsabend jedoch wollten die Schüler mehr über die ganz persönlichen Kriegserlebnisse und Beweggründe des deutschen Wehrmachtsoffiziers erfahren. So fragte ein 18-jähriger polnischer Schüler Joseph Klein, ob er im Krieg wissentlich auf Polen geschossen und Menschen getötet habe. Nach kurzem Zögern räumte Joseph Klein ein, auch auf polnische Soldaten geschossen zu haben, was sich im Krieg gar nicht habe vermeiden lassen. Ein ganz bestimmter Vorfall sei es jedoch, der ihn auch heute noch, nach mehr als 60 Jahren keine Ruhe lasse und ihm immer wieder Albträume bereite. Ein englischer Soldat, wohl noch ein wenig jünger als er selbst damals, habe ihm im Zuge der Kämpfe plötzlich Auge in Auge gegenüber gestanden. „Blitzartig ging mir der Gedanke durch den Kopf er solle bloß nicht zu seinem Gewehr greifen. Lass es, geh′ einfach wieder. Doch der Junge griff zu seinem Gewehr”, erinnert sich der heute 86-jährige mit stockender Stimme, „Da habe ich geschossen. Ich habe ihn erschossen, aus nächster Nähe. Das war neben all dem anderen Schrecken der schlimmste und grausamste Moment meines Lebens, aber sonst hätte er mich erschossen, daran gibt es auch heute keinen Zweifel. Aber das ist das Schrecklichste was einem Menschen widerfahren kann. Und deswegen haben wir die Stiftung gegründet und diese Jugendbegegnungsreisen ins Leben gerufen: Ihr müsst helfen und aufpassen, das so was nicht wieder passiert. Ein vereintes Europa und die beständige Erinnerung daran, was Krieg für die daran beteiligten Menschen bedeutet, sind zwei der wesentlichen Grundpfeiler um den Frieden in Europa dauerhaft zu erhalten. Krieg wird von Politikern und Herrschern befohlen, die sich untereinander gut kennen und sich persönlich nichts zuleide tun. Bluten dagegen müssen die Völker und die Soldaten, die sich weder kennen, noch sich gegenseitig etwas antun wollten, bevor sie von ihren Politikern und Herrschern durch volksverhetzende Propaganda dazu getrieben wurden.” An der Monte Cassino Schlacht waren so viele Nationen beteiligt wie an keiner anderen. „Kaum ein anderer Ort”, so fährt Joseph Klein fort, „eignet sich deshalb besser als internationales Mahnmal gegen den Krieg und zum Gedenken der Opfer, gleich welcher Nationalität und gleich auf welcher Seite sie standen. Das Ziel der Monte Cassino Stiftung ist, dass sich an diesem Ort Menschen verschiedenster Nationen begegnen und einander kennen und verstehen lernen. So wie ich es als Kriegsteilnehmer mit meinen ehemaligen Gegnern, die mir heute vielfach zu Freunden geworden sind, hier getan habe. Damit so ein Irrsinn nie wieder passiert”. Das, was die Jugendlichen während ihres einwöchigen Aufenthaltes in Cassino erfahren haben, wird sie und auch ihre Lehrer nicht nur im Unterricht noch lange beschäftigen. So leisten Jugendbegegnungsreisen dieser Art einen wichtigen Beitrag für Frieden und Völkerverständigung. / Andreas Vones